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Mehr Weltanschauung wagen?


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skeptiker - epaper ⋅ Ausgabe 3/2023 vom 19.09.2023

Waldorfpädagogik zwischen Kritik und Kurswechsel

„Erziehung zur Freiheit“ im Sinne Rudolf Steiners ist das Leitmotiv der Waldorfpädagogik, welches gleich dem ersten Statement des Bundes der Freien Waldorfschulen (BdFWS) nach Pandemiebeginn im Mai 2020 vorangestellt wurde. Die so betonte Haltung, dass es sich bei Waldorfschulen um rein pädagogische Einrichtungen handle, geriet im Verlauf der Pandemie allerdings ins Wanken: Eltern und Lehrkräfte von Waldorfschulen sorgten mit ihrer Kritik an Hygiene- und Impfmaßnahmen für Schlagzeilen, die Verbindungen zu Verschwörungstheorien und rechtem Milieu wurden diskutiert. Gerade das individualistische Freiheitsverständnis der Anthroposophie konfligierte mit dem mehrheitlichen Bedürfnis nach Schutzmaßnahmen und Zusammenhalt. Antworten auf diese Differenzen in der Bewertung der Pandemie und im Umgang mit ihr – und damit nicht zuletzt mit Kategorien wie Freiheit, Wissen und Wahrheit – wurden in der Anthroposophie, der Grundlage der Waldorfpädagogik, gesucht und zogen eine breite mediale Spurensuche nach der weltanschaulichen Prägung der größten nicht konfessionellen Alternativschule in Deutschland nach sich. Immer wieder sah sich der BdFWS als Dachverband zu Positionierungen und Rechtfertigungen herausgefordert – und scheint nun unter dem Motto „Mut zu mehr Weltanschauung“ einen Kurswechsel vorzunehmen.

Anthroposophie und ihre Praxisfelder

Die Anthroposophie als „ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte“ 11, war bereits zu ihrer Entstehungszeit, dem beginnenden 20. Jahrhundert, klar gegen den Materialismus ihrer Zeit gerichtet und versuchte diesen mit ihrer „Geisteswissenschaft“ im Wortsinn zu überwinden. Wie genau, führte ihr Begründer Rudolf Steiner in mehr als 6000 Vorträgen aus, die neben erkenntnistheoretischen Erörterungen auch Fragen der Lebensführung – der Pädagogik, der Landwirtschaft, der Medizin u. v. m. – beinhalteten.

Nicht nur sind diese anthroposophischen Praxisfelder im öffentlichen Bewusstsein heute präsenter als die dahinterstehende Epistemologie und Kosmologie, sie entfalten auch eine deutlich profanere Legitimationsund Anziehungskraft: „Sie funktionieren“, wie es von Praktikern und Konsumenten so oft heißt, die sich ihrer oftmals ohne viele grundlegende Kenntnisse bedienen.

Die Waldorfpädagogik mit ihren architektonisch eindrucksvollen Schulgebäuden und der künstlerisch-handwerklichen Ausrichtung ist das wohl bekannteste Praxisfeld der Anthroposophie. 253 Schulen gibt es allein in Deutschland, rund 1200 weltweit.22Der Bund der Freien Waldorfschulen ist der Dachverband dieser staatlich teilfinanzierten Schulen, seine Aufgabe ist u. a. „die Förderung und Entwicklung der Pädagogik Rudolf Steiners.“ 33Ausgestattet mit den Namensrechten entscheidet er darüber, welche Schule in ausreichendem Maße die Merkmale der Waldorfpädagogik erfüllt, um sich „Waldorf-“ oder „Steiner-Schule“ nennen zu dürfen. Eines der Kriterien: der Unterricht „auf der Grundlage der anthroposophischen Menschenkunde“. 44Wie viel Steiner im Sinne spezifisch anthroposophischer Inhalte und Denkweisen im konkreten Unterricht ankommt, ist Gegenstand fortwährender Diskussionen und hängt von der jeweiligen Zusammensetzung der Schulgemeinschaft ab, wenngleich der Gehalt angesichts der wachsenden Zahl der Schulen bei gleichzeitigem Lehrkräftemangel insgesamt abnehmen dürfte: Ein Drittel beschreibt sich als praktizierende/engagierte Anthroposophen, rund 40 Prozent stehen der Lehre Rudolf Steiners positiv bejahend, knapp ein Viertel kritisch-sympathisierend gegenüber, 55allerdings sind mittlerweile auch etwa 40 Prozent der Lehrkräfte nicht waldorfspezifisch qualifiziert. 66Von den Eltern wählen nur rund 11 Prozent die Waldorfschule aufgrund der anthroposophischen Grundlage, etwa die Hälfte wegen des pädagogischen Konzeptes im Allgemeinen und knapp 20 Prozent schlicht aus Unzufriedenheit mit staatlichen Schulen. 77Das Verhältnis der Absolventen zur Anthroposophie ist zumeist „indifferent oder skeptisch“. 88Diese Zahlen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass von der Schularchitektur bis zum Spielzeug, der Lehrkräfteausbildung bis zur Didaktik alles nach anthroposophischen Ideen gestaltet ist. So gesehen wird „in der Waldorfschule zur Anthroposophie erzogen, und zwar umso nachhaltiger, als sie nicht direkt und kontrollierbar ‚gelehrt‘, sondern gleichsam eingeflößt wird“99– und zwar auch dann, wenn sie vermeintlich nur noch „als Methode und nicht als Inhalt“ begriffen wird. 10

» Waldorfschule: Anthroposophie als Methode. «

Die Pandemie als Weggabelung

Die Pädagogik kann nun, nach der Medizin, als dasjenige anthroposophische Praxisfeld angesehen werden, welches während der Covid-19-Pandemie am breitesten Gegenstand der öffentlichen Diskussion war. Der zentrale Unterschied: Während es bei der Debatte um anthroposophische Medizin zumeist um medizinische Fragen ging, standen in der medialen Diskussion der Waldorfpädagogik weniger die pädagogischen Ideen und Praktiken im Vordergrund als vielmehr die gesellschaftspolitische Positionierung der Schulen, ihrer Lehrkräfte und Eltern: Berichtet wurde über die Kritik an Hygienemaßnahmen und ihre Nicht-Einhaltung, über gefälschte oder ungenügende Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht, über Aufrufe von Eltern, Masken zu beschädigen, sowie über eine im Waldorfmilieu verbreitete, grundsätzlichere Kritik an Impfungen. Hinzu kamen Meldungen über die Teilnahme von Eltern und Lehrkräften an Kundgebungen und Demonstrationen der sogenannten „Querdenkenszene“, nicht zuletzt auch über den Aufruf zum „Sturm auf den Reichstag“ im August 2020 durch eine „Waldorfmutter“ und über die inhaltliche Nähe der Partei „dieBasis“ zur Anthroposophie, die die Steiner’sche Idee sozialer Dreigliederung in ihrem Programm hat. 1111Über Allem stand die Frage: Wie viel von alldem hat mit der Anthroposophie zu tun – und wie viel mit Waldorfschulen? Die Antworten hierauf fielen unterschiedlich aus.

Wie nachfolgend erörtert wird, offenbarte die Corona-Pandemie eine gesellschaftspolitische Konsequenz des individualistischen Freiheitsbegriffs der Anthroposophie und trug so zu einer politisierten öffentlichen Wahrnehmung der Waldorfpädagogik bei – welcher anthroposophische Vertreter der Waldorfpädagogik entgegenzuwirken versuchen. Dies geschieht – vor allem seit der breiten medialen Diskussion in Folge öffentlich-rechtlicher Sendeformate – zunehmend auch über eine Neu-Aneignung des Weltanschauungsbegriffs. Doch von Anfang an.

Waldorfschulen: nur pädagogische Alternative?

Ist die Waldorfpädagogik in den ersten drei Jahren der Corona-Pandemie Thema in den Medien, wird sie mehrheitlich mit der Anthroposophie assoziiert und diese wiederum als gesellschaftspolitischer Akteur eingeordnet. Während die FAZüber eine soziokulturelle Verortung der Anthroposophen und anthroposophie-nahen Konsumenten im linksalternativen bis liberal-bürgerlichen Milieu die eher antiautoritäre Grundhaltung betonte, 1212war in der tazdie Rede von einer „esoterischen Großmacht“. 1313Der Spiegelwiederum berichtete über die Verbindung der Anthroposophen mit der Partei Bündnis 90/Die Grünen – die bei ihrer Gründung tatsächlich einen nicht unwesentlichen anthroposophischen Flügel hatte – und schlägt den Bogen von deren Sympathien gegenüber alternativen Heilmethoden zur gegenwärtigen Impfskepsis bis -ablehnung. 1414So naheliegend, so wenig bemerkenswert die Analysen – wenn nicht die Berichterstattung über beispielsweise Masernausbrüche an Waldorfschulen zumeist ohne die anthroposophische Rahmung ausgekommen wäre: Hier waren Waldorfschulen austauschbar gegen andere reformpädagogische Schulen oder Sportvereine. Doch mit der Totalität und Dynamik, mit der die Pandemie sich auf alle auswirkte, änderte sich auch der Blick auf Infektionsketten & Co.

Die Waldorfpädagogik ist durchdrungen von anthroposophischem Gedankengut.

Aber zurück zur Corona-Pandemie: Geht es um den Widerstand von „Waldorfanhängern“ und Anthroposophen gegenüber bestimmten Hygienemaßnahmen bis hin zur Corona-Leugnung, wird dieser teilweise mit deren individualistischem Lebensstil begründet, verwiesen wird auf ein (links-)liberales, (bildungs-)bürgerliches, gut situiertes, oft protestantisches Milieu. Immer wieder und vor allem ab Ende 2020, als eine Studie über die politische Soziologie der Corona-Proteste veröffentlicht wurde, 1515erfolgte auch eine weltanschaulich-politische Deutung dieser Akteure und Ereignisse. Rekurriert wird dabei insbesondere auf die Opposition von Waldorflehrkräften und -eltern gegenüber der Impfpflicht und die Nähe zu Verschwörungstheorien. Zugespitzt lässt sich sagen, dass das Verhältnis von Individuum und Staat in den Fokus gerückt und hinsichtlich seiner politischen Implikationen thematisiert und problematisiert wurde – das Agieren dieser Akteure schien von gesamtgesellschaftlicher Relevanz.

» Individualistisches Lebensgefühl versus Corona-Schutzmaßnahmen. «

Gegenläufig war wiederum die Selbstverortung der Waldorfpädagogik, repräsentiert durch den Bund der Freien Waldorfschulen und Vertreter der schulischen und akademischen Waldorfpädagogik. Wie zuvor bei den Masern, erwähnten sie in ihren Stellungnahmen die Anthroposophie nur selten, bemaßen die Waldorfschulbewegung allein an der Zahl der Schüler und Lehrkräfte, 1616um bereits die Möglichkeiten gesellschaftlicher Einflussnahme kleinzureden, und steckten ihren Zuständigkeitsbereich klar ab: innerhalb der waldorfpädagogischen Einrichtungen und allein zu pädagogischen Fragestellungen. 1717Damit wird nicht nur das anthroposophische Verständnis einer „ganzheitlich-heilenden Erziehung“ ausgeblendet, in der Pädagogik und Medizin über die gemeinsame Grundlage der anthroposophischen Menschenkunde untrennbar verschränkt sind, es ist auch zugleich nicht zutreffend, dass sie in ihrer Arbeit allein auf pädagogischem Terrain verbleiben, wenn der BdFWS an anderer Stelle Diskussionsveranstaltungen mit Vertretern „der ganzheitlichen Medizin“ ausrichtet, deren explizit anthroposophische Haltung zudem ungenannt blieb. 1818

Freiheit: Individualismus oder Gemeinwohl?

Bereits die erste Stellungnahme des Bundes der Freien Waldorfschulen im Oktober 2020 stellte den Freiheitsbegriff in den Mittelpunkt. So hieß es darin: „Der BdFWS ist dafür da, die Erziehung zur Freiheit in der Welt aktiv zu repräsentieren und zu verteidigen und die freien Partnereinrichtungen, die sich ihm anschließen, zu befähigen, dieses Ziel praktisch zu verwirklichen. […] Erziehung zur Freiheit bedeutet, jungen Menschen zu ermöglichen, unvoreingenommen eigene Urteile zu fällen, die Folgen ihres Handelns abwägen zu können und das Gemeinwohl sowie die Freiheit ihrer Mitmenschen im Blick zu haben.“1919Im Mittelpunkt stehe die möglichst freie Entwicklung des Individuums im Umgang mit anderen als Voraussetzung für Gemeinwohl. Wie auch in den darauffolgenden Pressemitteilungen und Interviews, wird Freiheit von anthroposophischen Akteuren mit pädagogischen Schlagworten wie kindliche Entwicklung, Vertrauen, Begegnung, Urteilsfähigkeit und Fantasie ausbuchstabiert, und zwar ohne sich – auch für Nicht-Anthroposophen – erkennbar anthroposophischer Begründungsfiguren und Ideen zu bedienen. Ist die Positionierung zu nicht genuin pädagogischen Fragen unausweichlich, wie bei der Impfpflicht, wird auf die individualistische Lebensform der Mitglieder bzw. „Anhänger“ verwiesen, welche es zu respektieren gelte – von Fragen der weltanschaulichen Überzeugungen wiederum wird sich entschieden distanziert. Exemplarisch dazu Jost Schieren in der Zeit: „‚Aber das ist kein ideologisches Problem der Anthroposophie, sondern ein soziologisches, das viele freie Schulen trifft. […] Eltern, die ihre Kinder auf freie Schulen schicken, sind in der Regel etwas nonkonformistischer, liberaler und weniger staatsorientiert. Viele verfolgen einen individuellen, alternativen Lebensstil. Das gilt auch für viele Lehrkräfte.‘“20

Impfgegnern attestiert die Forschung ein ?libertäres Freiheitsverständnis?.

Aus nichtanthroposophischer Perspektive werden die individuellen Lebensund Konsumentscheidungen vor dem Hintergrund der Pandemie stärker politisch gedeutet. Hierzu mag beitragen, dass viele Maßnahmen zur Pandemieeindämmung und insbesondere Impfkampagnen nicht auf das Individuum, sondern immer auf die Allgemeinheit zielen und laut Bertelsmann-Stiftung immerhin zwei Drittel der Deutschen sich vor diesem Hintergrund für mehr Einschränkungen im Privaten – d. h. individuellen Verzicht zugunsten des Gemeinwohls – aussprechen21.

Ebenfalls zur politischen Betrachtung des individualistischen Freiheitsverständnisses und Lebensstils im „Waldorfmilieu“ trägt die daran anschließende Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Staat bei. In der taz heißt es hierzu exemplarisch: „Die Waldorfpädagogik baut auf ‚Erziehung zur Freiheit‘. In der Pandemie ist an Waldorfschulen nicht klar, wo Freiheit aufhört und Diktatur beginnt.“2222Die Systemfrage ist gestellt. Auch die Soziologin Nadine Frei (Universität Basel) spricht im Anschluss an ihre Studie zu den Corona-Protesten „von einem ‚libertären Freiheitsverständnis‘ der Impfgegner […]. Das ist auch eine Motivation von Eltern, die ihre Kinder auf Waldorfschulen schicken: die selbstbestimmte Struktur.‘“ 23

» Der Verweis auf die Lebensformen immunisiert gegenüber Kritik. «

Diese kurzen Auszüge mögen verdeutlichen: In den Berichten, in denen die Waldorfpädagogik als anthroposophisch und damit über die pädagogische Einrichtung hinausweisend eingeordnet wird, erscheint das individualistische Freiheitsverständnis explizit als Ausgangspunkt für eine gesellschaftspolitische Einordnung und Kritik. Zugleich versuchen Anthroposophen und Waldorfpädagogen, gerade diese gesellschaftspolitische Verortung zu vermeiden und dort, wo sie eine rein pädagogische Rolle überschreiten müssen, auf die Lebensstile der Schulangehörigen zu verweisen bzw. auszuweichen. Somit stehen sich zugespitzt, in Anlehnung an das Bonmot des deutschen Erziehungswissenschaftlers Heiner Ullrich 2424, die Lesart einer bemerkenswerten, allein pädagogischen Praxis (aus Sicht der Anthroposophen) und einer dubiosen, auch gesellschaftspolitisch relevanten Theorie (aus Sicht der Nicht-Anthroposophen) gegenüber.

Gewissermaßen dazwischen bewegen sich die Rekurse auf die Lebensformen, die sich u. a. durch antiautoritäre, individualistische, eben spezifisch freiheitliche Wertorientierungen auszeichnen, gerade ohne eine weltanschaulich-politische Zuordnung. Diese Argumentationsfigur gewinnt dadurch an Bedeutung, dass Lebensformen, verstanden als „komplex strukturierte Bündel (oder Ensembles) sozialer Praktiken, die darauf gerichtet sind, Probleme zu lösen, die ihrerseits historisch kontextualisiert und normativ verfasst sind“, also beispielsweise die aus bestimmten Werteüberzeugungen resultierende Hinwendung zu den anthroposophischen Praxisfeldern und Institutionen, gemeinhin außerhalb von Kritik stehen, da „[d]ie politische Ordnung des liberalen Rechtsstaats […] sich entsprechend als Versuch einer lebensformneutralen Organisation dieses Zusammenlebens [verschiedener Lebensformen] dar[stellt]“. 2525Auf diese Weise immunisiert der Verweis auf die Lebensformen gegenüber Kritik – und das gerade zu einer Zeit, wo die anthroposophische und gesellschaftspolitisch relevante Dimension der Waldorfpädagogik langsam in den Diskurs Eingang findet.

» Aneignung, Neuinterpretation und Positivbesetzung von Vorwürfen. «

Abwehr

Die Ende 2020 in einem ersten Bericht und 2021 erneut veröffentlichte Studie zu den Corona-Protesten, 2626die als ein beteiligtes Milieu auch das anthroposophische ausmachte, führte nicht nur zu einer Häufung von Medienberichten, die diesen Umstand aufgriffen, sondern auch zu einer entschiedenen Gegenreaktion. So sprach der BdFWS von einer „Welle von Falschmeldungen“, in denen „die Waldorfschulen als vermeintliche Sündenböcke“ inszeniert würden, und betitelte die Pressemitteilung mit den Worten „Waldorfschulen wehren sich: Fakten gegen Fake News.“ 2727Jegliche politische Deutung der Pädagogik oder Anthroposophie wurde vom BdFWS, aber auch in Zeitschriften unterschiedlicher anthroposophischer Strömungen, vehement zurückgewiesen – man verstand sich als zu Unrecht in die Kritik geraten und drehte rhetorisch den Spieß um, indem man den virulenten Begriff Fake News bemühte.

Ende 2022 zeigte sich, dass der veränderte Blick auf die Waldorfpädagogik als Teil der Anthroposophie nicht nur vorübergehend, sondern von nachhaltiger Wirkung war. Da erschienen, nach einer gemeinsamen, monatelangen Recherche der Journalisten, eine Folge der satirisch-journalistischen Late-Night-Show ZDF Magazin Royale und eine 6-teilige, ausführliche Recherche der Krautreporter,u. a. über die Lehrkräfteausbildung, Finanzierung und anthroposophische Durchdringung, aber auch bestehende Machtstrukturen und den Umgang mit Kritikern. 2828Insbesondere die Late-Night-Show von Jan Böhmermann sorgte für eine breite öffentliche Wahrnehmung. Während es durchaus gelang – wenig überraschend – allerlei skurrile Beispiele aus der Waldorfwelt zu präsentieren und ins Absurde bzw. Lächerliche zu ziehen, schien die Rezeption durchaus ambivalent, wie ein Blick in einschlägige Kommentarspalten zeigte. Wer sich nicht mit Spott allein zufriedengab, dem schien die Skurrilität des Dargebrachten mithin als Ausdruck von bewusster Übertreibung und einer – ggf. sogar unredlichverzerrenden – einseitigen Darstellung dessen, was die Waldorfpädagogik ausmacht. Als Abwehrreaktion kam es von anthroposophischer Seite zu Vorwürfen von Einseitigkeit bis Rufmord. Demgegenüber versuchte die mehrteilige Reportage zu den anthroposophischen Praxisfeldern von Frank Seibert Anfang 2023, dem Thema zumindest vordergründig offener zu begegnen und stellte die Aussagen von Kritikern jenen der Praktiker und Vertreter anthroposophischer Institutionen gegenüber, ließ diese auch selbst zu Wort kommen. Diese breite Rezeption der weltanschaulichen Hintergründe der Waldorfpädagogik und weiterer Praxisfelder wirkte als Katalysator für ehemalige Waldorfschüler bzw. -eltern, ihre eigenen – vor allem auch negativen – Erfahrungen zu teilen. Eine Plattform bot ihnen dabei insbesondere Twitter unter den bezeichnenden Hashtags #anthrometoo und #exwaldi. Ein anschauliches Beispiel, wie persönliche Erfahrungen von Betroffenen mit einer politisch-aktivistischen Kritik Hand in Hand gehen können, bildet der seit November 2022 bestehende „Waldorfsalat“-Podcast von Oliver Rautenberg und einem mehrköpfigen Team, in dem immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von individueller Erfahrung und System, von Waldorfpädagogik und Anthroposophie verhandelt wird (https://waldorfsalat. letscast.fm/).

Auf der anthroposophie-nahen Seite zeichnen sich verschiedentliche Rezeptionsmodi der medialen Kritik an der anthroposophischen Grundlage der Waldorfpädagogik ab. Eine Antwort war ein 1,5-stündiges „Aufklärungsvideo“, in dem Markus Fiedler, bis zu seiner Suspendierung im Sommer 2020 Waldorflehrer in Oldenburg, und Dirk Pohlmann, bis 2016 Dokumentarfilmer im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, eine angebliche Verschwörung von Böhmermann, GWUP und Amadeu-Antonio-Stiftung konstruierten und welches allein innerhalb der ersten drei Tage rund 15 000 Klicks und mehrere hundert überwiegend wohlwollende Kommentare erhielt. Eine weitere, anders gelagerte Antwort kam von der eigentlich eher liberalen anthroposophischen Zeitschrift Info3,die eine Radikalisierung der kritischen Rhetorik konstatierte, diese jedoch selbst reproduzierte, indem sie einschlägige Begriffe wie „Denkpolizei“ in Anschlag brachte und die Anthroposophie als „weltanschaulich[e] Minderheit“ und damit implizit als unschuldiges Opfer darstellte, der es lediglich um die Eindämmung der „materialistischen Naturwissenschaft“ gehe. 2929Hier eröffnet sich, was die Anthroposophie heute wie auch schon vor 100 Jahren bietet: ein Angebot gegen die Entfremdung und ihre Erscheinungen in Wissenschaft, Politik, Gesellschaft.

Mit den AHA-Regeln wurden in der Pandemie auch Fragen von Individualität und Gemeinwohl verhandelt.

Reclaim „Weltanschauung“

In der Schulzeitschrift Erziehungskunst,welche als monatliches Periodikum seit über 100 Jahren allen Waldorfeltern zugeht, zeigt sich erneut das Opfernarrativ, indem das Bild einer „mittelalterliche[n] Hexenjagd“ des Mainstreams gegen „Randgruppen“ bemüht wurde: Wie auch schon die Rassismus- und Antisemitismusvorwürfe diene auch die aktuelle Kritik an der Nähe von Waldorf-Akteuren zu „Querdenkern“ & Co. dazu, die Anthroposophie und ihre Praxisfelder – fälschlicherweise – als rechts zu verunglimpfen. 3030Diese Zusammenführung der verschiedenen Debattenstränge ist insofern konsequent, als der Umgang mit ihnen in der Regel der gleiche ist: Abwehr, Externalisierung, Relativierung – und auf der eigenen Seite: Beteuerung der eigenen Unschuld, reaktives Agieren in bisweilen selbst positivistischer Weise (wenn beispielsweise der eigene Einflussbereich an Schülerzahlen oder Steiners Rassismus allein an einzelnen Begriffen und deren Häufigkeit festgemacht wird) und eine Kontextualisierung, die jegliche anthroposophische Akteure entweder ihrer Verantwortung enthebt und entschuldigt oder deren kritikwürdiges Handeln als Einzelfälle erscheinen lässt. Kurz und anders gesagt: Die Kritik der Kritik wird auf den Plan gerufen, über die Inhalte hinweggegangen. Gleichzeitig gibt es auch zunehmend binnenanthroposophische Stimmen, die über Erneuerung sprechen, über Antirassismus, Dekolonisierung, über Diversität und ihre Implementierung in den bisherigen Lehrplan und Alltag (siehe hierzu auch den Artikel „Frequently asked Questions – Anthroposophische Versuche, Rudolf Steiners Rassismus aufzuarbeiten, von Ansgar Martins, Skeptiker2/2023, S. 66 – 71). Der Titel der Delegiertentagung im Januar 2023 – „Ist das noch Waldorf oder kann das weg?“ 3131– mag hierfür bezeichnend sein. Aber: Auch hier lohnt ein genauerer Blick. Denn es geht bei näherer Betrachtung keineswegs um eine Abkehr von Steiner als Begründer der Waldorfschule und seiner Erkenntnis höherer Welten. Anthroposophie und Waldorfpädagogik neu denken geschieht maßgeblich im Modus einer „Rückkehr zu den Quellen“. Hinzu kommt eine Neudeutung des Weltanschauungsbegriffs, die ausgerechnet auf der Didacta, Europas größter Bildungsmesse, 2023 erstmals öffentlich in einer derart prägnanten Form vorgetragen wurde. So hieß es in der zugehörigen Pressemitteilung des BdFWS: „Mut zu mehr Weltanschauung – im Sinne einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft. So könnte das Fazit einer Podiumsdiskussion im Rahmen der didacta Bildungsmesse anlässlich der aktuellen Dokumentation ‚ARD Wissen, Frank Seibert in der Waldorfschule‘

lauten.“32 Mit der Strategie, auf Kritik und Abwertung mit der Aneignung, Neuinterpretation und Positivbesetzung der Vorwürfe zu reagieren, folgt der BdFWS durchaus dem aktuellen Zeitgeist. Reclaim „Weltanschauung“ – je mehr, desto besser und jeder, wie er mag: Das erinnert an die liberale Haltung gegenüber Lebensformen, die als wertegeleitetes Handeln (vermeintlich) außerhalb der Kritik stehen und eine angesichts der in der ganzen Debatte um Waldorfpädagogik, Anthroposophie und Covid-19 durchaus überraschende Beliebigkeit suggerieren. Denn das Aufkommen der Pandemie war der Startschuss für einen Wettlauf wissenschaftlicher Erkenntnisse und weitgreifender politischer Maßnahmen, bei dem die Distanz für eine gelungene Kommunikation über notwendige Maßnahmen schnell zu groß wurde und viele früher oder später auf der Strecke blieben. Verhandelt wurden nicht nur die AHA-Regeln, sondern vor allem auch Fragen nach Wissensproduktion und -kommunikation, nach Wahrheit und Freiheit – individuell und gesellschaftlich. Die Anthroposophie war und ist ein Sinnund Deutungsangebot, das von ihren Vertretern und Praktikern zu Markte getragen, aber auch nachgefragt wurde. Denn hinter der Frage, wie viel Anthroposophie in Waldorfpädagogik & Co. steckt, stehen grundlegender die sich in ihrer Nachfrage spiegelnden Bedürfnisse, Fragen und Kritiken an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Und die gilt es, ernstzunehmen.

Ann-Kathrin Hoffmann ist Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet derzeit an der Fern-Universität in Hagen zur Rezeption von Waldorfpädagogik in der Öffentlichkeit und im akademischen Diskurs im internationalen Vergleich. Weitere Forschungsschwerpunkte sind (Anti-)Intellektualität, Hochschule und Gewerkschaften. ann-kathrin.hoffmann@outlook.com.

1 Steiner, R.: Gesamtausgabe [„GA“], Rudolf Steiner-Verlag, Dornach 1949ff., zit. n. https://steiner.wiki/Die_Rudolf_Steiner_ Gesamtausgabe; hier: GA 26, 14.

2 BdFWS (2023b): https://web.archive.org/web/20230728070827/https://www.waldorfschule.de/ueber-uns/bund-der-freienwaldorfschulen, Zugriff am 24. Juli 2023.

3 Ebd.

4 Internationale Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung (Haager Kreis) (2016): https://web.archive.org/web/20230728071026/https://www. waldorf-international.org/fileadmin/downloads/1605_Merkmale_IK_Arles.pdf, Zugriff am 24. Juli 2023.

5 Barz, H. (2013): Vom Puritanismus zum Pragmatismus? Metamorphosen im Selbstverständnis der Waldorfpädagogen. In: ders. (Hrsg.): Unterrichten an Waldorfschulen. Springer VS, Wiesbaden, S. 310.

6 Randoll, D. (2013): Waldorfpädagogik aus Sicht der Empirischen Bildungsforschung. In: ders.; da Veiga, M. (Hrsg.): Waldorfpädagogik in Praxis und Ausbildung. Wiesbaden, Springer VS, S. 60.

7 Barz, H.; Randoll, D. (2007): Einleitung: Intentionen und Hauptergebnisse der Untersuchung. In: dies. (Hrsg.): Absolventen von Waldorfschulen. Springer VS, Wiesbaden, S. 16.

8 Ebd., S. 19.

9 Prange, K. (2005): Erziehung zur Anthroposophie. Klinkhardt, Bad Heilbrunn, S. 17.

10 Schieren, J. (2015): Der Weltanschauungsvorwurf Vom Einfluss der Anthroposophie auf die Waldorfpädagogik – Eine Frage der Form und des Maßes. In: Research on Steiner Education, 1, S. 104f.; 107.

11 Rautenberg, O. (2021): https://web.archive. org/web/20230728080729/https://www.ndaktuell.de/artikel/1158880.anthroposophiein-der-coronakrise-es-schadet-doch-nichts. html, Zugriff am 28. Juli 2023.

12 Holl, T.; Soldt, R. (2021): https://web.archive. org/web/20230728081352/https://www.faz. net/aktuell/politik/inland/impfgegner-undanthroposophie-hoehere-einsichten-dankrudolf-steiner-17665933.html, Zugriff am 28. Juli 2023.

13 Heidlberger, B. (2020): https://web.archive. org/web/20230728081958/https://taz. de/Waldorfpaedagogik-ausser-Kraft-im-Lockdown/!5730727/, Zugriff am 28. Juli 2023.

14 Höhne, V. (2020): https://web.archive.org/web/20230728082249/https://www.spiegel. de/politik/deutschland/proteste-gegencorona-politik-gruene-grenzen-sich-ab-adeac366d-3a30-47d7-904a-02469f4e7471, Zugriff am 28. Juli 2023.

15 Nachtwey, O.; Schäfer, R.; Frei, N. (2021): Politische Soziologie der Corona-Proteste.

16 Sadigh, P. (2021): https://web.archive.org/web/20230728083413/https://www.zeit.de/ zustimmung?url=https://www. zeit.de/gesellschaft/schule/202111/waldorfschulen-corona-leugner-impfgegner-querdenker-vorurteile, Zugriff am 28. Juli 2023.

17 BdFWS (2020): https://web.archive.org/web/20230728084613/https://www.waldorfschule.de/ueber-uns/corona-faq?kategorie=VS_Erklaerung_5_Oktober, Zugriff am 28. Juli 2023.

18 BdFWS (2021a): https://web.archive.org/web/20230728085245/https://www. waldorfschule.de/artikel/was-brauchen-junge-menschen-jetzt-paedagogik-und-medizin-nehmen-die-aktuellen-fragen-gemeinsam-in-den-blick, Zugriff: 28. Juli 2023; Gesundheit aktiv. e.V. (2019): https://web.archive.org/web/20230728092524/https://www.gesundheit-aktiv.de/images/ Satzung_2022.pdf, Zugriff am 28. Juli 2023.

19 BdFWS (2020), vgl. EN 18.

20 Sadigh (2021), vgl. EN 16.

21 Bertelsmann-Stiftung (2021): https://www. bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/zwischen-individueller-freiheit-und-gemeinwohl-all, Zugriff am 28. Juli 2023.

22 Wrusch, P. (2020): https://web.archive.org/web/20230728090756/https://taz.de/Waldorfschulen-und-Corona/!5731231/, Zugriff am 28. Juli 2023.

23 Jakob, C. (2021): https://web.archive.org/web/20230728091035/https://taz.de/Urspruenge-der-Impfskepsis/!5818070/, Zugriff am 28. Juli 2023.

24 Ullrich, H. (2015): Waldorfpädagogik. Eine kritische Einführung. Beltz Juventa, Weinheim/Basel, S. 11.

25 Jaeggi, R. (2013): Kritik von Lebensformen. Suhrkamp, Berlin, S. 21f., 58, 9.

26 Nachtwey, O.; Schäfer, R. (2023): https://soziologie.philhist.unibas.ch/de/forschung/forschungsprojekte/politische-soziologieder-corona-proteste/, Zugriff am 28. Juli 2023.

27 BdFWS (2021b): https://web.archive.org/web/20230728092337/https://www.waldorfschule.de/artikel/waldorfschulen-wehren-sich-fakten-gegen-fake-news, Zugriff am 28. Juli 2023.

28 Krautreporter: https://krautreporter.de/serien/393-waldorf-report, Zugriff am 28. Juli 2023.

29 Dehmelt, A. (2022): https://info3-verlag.de/zeitschrift-info3/november-2022/materialismus-contra-anthroposophie-wer-ist-rautenberg/, Zugriff am 28. Juli 2023.

30 Schieren, J. (2022): https://www.erziehungskunst.de/artikel/anthroposophie-in-der-kritik, Zugriff am 28. Juli 2023.

31 BdFWS (2023b): https://web.archive.org/web/20230728093552/https://www.erziehungskunst.de/artikel/ist-das-noch-waldorfoder-kann-das-weg, Zugriff am 28. Juli 2023.

32 BdFWS (2023), vgl. Endnote 1.

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