Mein Leben, ein großer Umweg
Die Sache ist die: Nach außen hin mag ich wie die versierte Weltreisende erscheinen, aber in Wahrheit habe ich keine Ahnung, wo’s langgeht. Kaum ist der Akku meines Handys leer, marschiere ich zielsicher in die falsche Richtung. Jedes. Einzelne. Mal. Sogar an Orten, wo ich Jahre meines Lebens verbracht habe, schaffe ich es, mich zu verlaufen. Keine Ahnung, warum das so ist. Vielleicht ist bei meiner Geburt was schiefgelaufen, und die Hebamme hat im Kreißsaal mit einem Magneten über mir rumgefuchtelt und dabei meinen inneren Kompass ausgelöscht.
Letztlich musste ich sogar eine mögliche Karriere als Safari-Rangerin in Südafrika wegen dieses Mankos ad acta legen. Denn wie sehr ich mich auch anstrengte, irgendwie sah jeder Pfad in der Wildnis gleich staubig aus. Und Bäume, Hügel oder Termitenbauten als mögliche Wegweiser zurück ins Camp hatte ich in der nächsten Sekunde wieder vergessen.
Jetzt könnte man die Sache positiv sehen und sagen: „Wer sich ständig verläuft, legt Extrakilometer zurück und sieht letztlich mehr von dieser Welt.“ Klar. Doch irgendwann beginnt man sich doch zu fragen: Fehlt’s an Hirnschmalz? Oder bin ich gar lebensunfähig?
Immerhin scheint jedes Wesen auf diesem Planeten mit irgendeiner Art von Kalibrierung zur Welt zu kommen. Ameisen, Fledermäuse, Wale, Mistkäfer, Hunde, sie alle finden wieder nach Hause zurück. Nur ich nicht. Dabei will ich ja nicht gleich so ein Genie wie der Kuckuck werden: Dieser Vogel weiß mit schlafwandlerischer Sicherheit, dass er nach Süden fliegen muss, um im Winter warme Gefilde zu finden – obwohl er’s von niemandem gezeigt bekommen hat, weil Kuckuckseltern ihren Nachwuchs üblicherweise in fremde Nester schmuggeln und sich dann vertschüssen … Ich würde lediglich gern ein bisschen mehr Ahnung davon haben, wo ich bin. Und wohin ich gehe.
Ein Gebiet ohne Wegweiser
Darum England. Das Gebiet ist nicht zufällig gewählt. In Cumbria und dem Lake District finden sich null Wegweiser, weil man mit Markierungen nicht die Landschaft verschandeln will. Das bedeutet: Wer hier herumgurkt, braucht entweder einen Guide – oder Karte und Kompass, denn um Mobilfunkempfang ist es ebenso schlecht bestellt. Ich habe sicherheitshalber gleich das komplette Paket: Kompass, Karte plus Guide Matt. Und die Hoffnung, dass Letztgenannter den Knoten in meinem Hirn (und in meinem Unterbewusstsein, es ist ja selten nur der Kopf) auflösen wird.
Aha-Erlebnis mit dem Kompass
Das Erste, was ich lerne: Meine Eitelkeit, die mich bisher keine Lesebrille hat kaufen lassen, rächt sich. Alle Linien erscheinen winzig klein auf der Landkarte, und ich muss mich höllisch konzentrieren.
Matt erklärt, dass bei Landkarten Norden immer oben ist und die meisten Wanderkarten im Maßstab 1:25.000 gehalten sind. „Ein Kästchen im dahinterliegenden quadratischen Raster ist einen Kilometer lang. Und ein Millimeter auf der Karte entspricht 25 Metern in der Realität. Zum Messen kannst du das Lineal verwenden, das sich auf der klaren Kunststoffplatte des Kompasses findet.“ Ah, dafür ist das Ganze also. Ich dachte, es sei bloß ein nettes Gimmick – so wie der Korkenzieher beim Taschenmesser.
Überhaupt scheint der Kompass einige verborgene Talente zu haben: Er benötigt, anders als ein GPS-Gerät, keine Batterien oder Updates. Er funktioniert in allen Ecken der Welt, bei jedem Wetter und kann nass werden, ohne kaputtzugehen.
An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass es in Cumbria an rund 200 Tagen im Jahr regnet und die Einheimischen mehr Worte für Regen kennen als für Liebe. Es gibt mizzle, drizzle, dibble, dreich…
Aktuell erfreut uns feiner Nieselregen. Die Art, die sich in jede Hautpore legt.
Das Besondere erspähen
Aber genug der Wetterklagen. Der See, den wir anpeilen, hat vier Millimeter auf der Karte. „Der dürfte also hundert Meter lang sein?“, frage ich. Matt nickt. Wobei: Wie lange oder wie kurz sind eigentlich hundert Meter, wenn man sie erblickt?
„Erfahrungswerte“, meint Matt. Ah ja. Ich lerne, dass unterschiedliche Länder mitunter andere Landkartenlegenden verwenden. Offenbar muss man sich vor Verwendung der Karte immer mit dem Kleingedruckten vertraut machen.
In England bedeuten durchgehende schwarze Linien etwa, dass es eine Steinmauer oder einen Zaun gibt. Gepunktete schwarze Linien sind Wege für Wanderer, grüne Linien auch für Mountainbiker, Reiter etc. Bleiben noch die Höhenringe. Die zeigen an, wie hoch ein Berg oder Hügel ist. Je dichter sie nebeneinander gezeichnet werden, desto steiler ist das Gebiet. Matt sagt auch, dass man an der Linienführung erkennen kann, wie zerfurcht oder glatt eine Erhebung ist. Ich bin schon froh, bestimmen zu können: Steiler Hügel. Flacher Hügel.
„Der Trick beim Navigieren ist, immer nach dem Besonderen in der Landschaft Ausschau zu halten“, erklärt Matt in seiner Einführungslektion. „Gibt es einen Felsen, der eine ungewöhnliche Form hat? Finden sich Reste einer Steinmauer? Ein Bach? Anhand dieser Punkte versuchst du dann, auf der Karte zu eruieren, wo du genau bist.“
Forscher untermauern seine Herangehensweise. Sie sagen, wer seine räumliche Orientierung verbessern will, muss sein Gedächtnis und seine Aufmerksamkeit schulen. Also die Gegend mit den Augen scannen, geistige Markierungen setzen, konstant „wach“ sein. Aber auch der Gleichgewichtssinn spielt eine Rolle, so lerne ich. Dass mir beim Autofahren und auf Booten prinzipiell speiübel wird, ist also eine mögliche Erklärung für mein Navigationsdefizit. Trotzdem: Mich auf „Ich werde seekrank“ auszuruhen gilt nicht. Die Wissenschaft sagt: Dann muss man halt andere Bereiche mehr schärfen.
Vom Großen ins Kleine zoomen
„Sieht alles gleich grün und felsig aus“, grummle ich, als Matt mich auffordert, nach irgendetwas Ausschau zu halten, das erinnerungswürdig erscheint. „Sieh genauer hin“, sagt er.
Räumliche Orientierung hat mit der Schulung des Gedächtnisses zu tun – aber auch mit gutem Gleichgewicht.
Hm. Hinter mir liegt der Startpunkt, eine alte Schiefermine. Die ist zwar nicht mehr zu sehen, aber sie muss in meinem Rücken sein. Check. Rechts ist ein Hügel, der höher als die anderen scheint und folglich engere Höhenlinien eingezeichnet haben sollte. Check. Links etwas abseits fließt ein Bächlein, wenn ich nicht irre. Also mit der Karte wieder vom Großen ins Kleine zoomen.
Matt ermuntert mich, die Windungen des Bachbetts auf der Karte zu studieren und sie mit dem, was ich sehe, zu vergleichen. Ha! Ich erkenne eine enge Kurve – auf dem Papier und auch nicht weit von mir. „Wir sind ungefähr hier“, mutmaße ich. Matt nickt. Euphorie setzt trotzdem nicht ein, denn ich fühle mich, obwohl wir erst eine Stunde unterwegs sind, wie erschlagen. Nicht körperlich, sondern geistig. Dieses Stop-and-Go ist mörderisch anstrengend. Von der Landschaft auf die
Karte zoomen, alles zehnmal überprüfen, damit man ja keinen Meter zu viel in die falsche Richtung läuft …
Und, was ich nicht kundtue, was aber mein Blick verrät: Es macht mir null Spaß. Nicht nur wegen des Wetters.
Ich stapfe durch eine malerische Kulisse, kann aber nicht meinen Gedanken nachhängen, wie ich in der Natur das gern mache. Alles in mir schreit: „Merk dir besser, wie dieser blöde Felsen aussieht, sonst findest du niemals zurück zum Auto, und deine Überreste werden von Schafen gefressen.“ Ich fühle mich in einer ständigen Testsituation. Und habe ich es schon erwähnt? Ich hasse Tests!
Was bringen alte Weisheiten?
Matt lacht: „Vieles ist Übungssache. Es wird einfacher, je öfter du es machst.“ – „Aber Matt, hast du denn keine Shortcuts oder Weisheiten, wie ich mich mithilfe der Naturelemente oder der Botanik orientieren kann?“ Es wird ja wohl bestimmt überliefertes Wissen von Seefahrern und
Abenteurern geben, das auch heute noch Gültigkeit hat.
In der Schule wurde mir eingetrichtert: „Wenn du morgens die Sonne im Rücken hast, ist hinter dir Osten und du schaust in Richtung Westen. Denn: Im Osten geht die Sonne auf, im Süden steigt sie hoch hinauf. Im Westen wird sie untergeh’n, im Norden ist sie nie zu seh’n.“
Matt meint nur achselzuckend: „Für gewöhnlich ist es hier im Norden Englands zu wolkig, ich würde mich also nicht auf den Sonnenstand verlassen wollen.“ Mist. Und auch von Beobachtungen wie „Die Blätter auf der Südseite einer Pflanze sind dichter und dicker“ oder „Moos ist auf der Nordseite generell grüner und feuchter“ hält er nicht viel. Weil Moos auch grün und feucht sein kann, wenn vielleicht ein Felsen Schatten wirft.
Zwei Taktiken, ein Ziel
„Du bist wahrscheinlich eher Typ zwei“, sagt Matt. Ah? Ich wusste nichts von einer Typisierung unter Orientierungslosen. Aber ich erfahre: Diejenigen, die mit logisch-analytischem Denken ausgestattet sind, finden die Verwendung von Karte und Kompass stimmig.
Stur der Kompassnadel folgen? Das ist nur dann eine gute Idee, wenn kein Metall von Handys oder Radios stört.
Geschöpfe hingegen, die tendenziell aus dem Bauch heraus agieren (und schnell seekrank werden), tun sich oft leichter, nur auf ein Teil zu schauen – nämlich den Kompass. Aber wie genau soll das funktionieren?
„Du peilst ein Ziel an – zum Beispiel einen See –, stellst den Kompass auf die entsprechenden Richtungswinkel ein und marschierst dann nur damit los, ohne ständig die Karte zu überprüfen“, sagt Matt. Man bewegt sich also quasi querfeldein, nimmt den Luftlinien-Weg und nicht zwangsweise vorgezeichnete Pfade. Das mag vielleicht unwegsamer und in Städten nicht wirklich praktikabel sein (außer man besitzt Superkräfte und kann sich seinen Weg durch Betonmauern bahnen), aber in hügeliger Natur und zum Überleben funktioniert es. Ich mag diese Variante jetzt schon.
Ich merke: Landkarten machen mich auf Dauer irre. Mir reicht eine grobe Richtung. Der Rest wird sich finden.
Wobei, ganz ohne Karte kommt man auch hier nicht aus. Man braucht sie zum Einstellen der Kompassnadel. Prinzipiell zeigt deren rotes Ende Richtung Norden, würde man allerdings immer nur der Nadel hinterhermarschieren, käme man mitunter hunderte Kilometer vom Nordpol entfernt an. Warum das so ist, erklären Physikbücher (Warnung: kompliziert!). Mir reicht es, zu verstehen, dass im Erdinneren flüssiges Eisen in Bewegung ist. Und dass man Pi mal Daumen eh auch geht.
Pi mal Daumen ist man zumindest in die richtige Richtung unterwegs. „Bei der Verwendung des Kompasses darf es keine Störfaktoren geben“, erklärt Matt. „Metall beeinflusst die Nadel. Falls du also neben einem großen Auto stehst, Lautsprecher, Smartphones oder Radiogeräte in der Nähe hast, kann sie fehlerhaft sein.“ Ich gebe mein Handy in den Rucksack und bringe den letzten Rest an Konzentration auf, um zu lernen, wie man beim Navigieren nicht irre wird.
Querfeldein wird alles gut Zusammengefasst geht es so: Man legt mit der Linealkante des Kompasses eine direkte Linie zwischen Start- und Zielpunkt. Dafür sollte man wissen, wo man sich befindet, klar, aber das kriege ich mit etwas Bemühen und dem, was Matt mir heute beigebracht hat, hin.
Dann dreht man die runde Drehscheibe des Kompasses so lange, bis die im Kompassinneren eingezeichneten Linien mit den Nord-Süd-Linien der Wanderkarte übereinstimmen. Nun wird der Kompass so lange gedreht, bis der Magnetpfeil mit dem anderen Pfeil, der im Kompass aufgemalt ist, übereinstimmt.
Zugegeben, diesen Prozess muss man mit eigenen Augen sehen, um ihn zu verstehen (einfach mal nach „Wie verwende ich einen Kompass?“ bei YouTube suchen). Und das Ganze mehrfach zu wiederholen schadet sicher auch nicht. Aber plötzlich hebt sich meine Laune: Ich kenne die Richtung. Mehr will ich gar nicht wissen.
Und so marschiere ich quer über weiche Moorfelder, saue meine Schuhe ein und komme ein paar Kilometer weiter tatsächlich dort an, wo ich hinwollte. Das grenzt für mich an Magie. Plus: Ich rieche die frische Luft, sehe sogar Schafe und komme nicht umhin zu denken: „Vielleicht kann ich diesen Kurs als Metapher fürs Leben verstehen. Es gibt Leute, die planen, und solche, die sich lieber treiben lassen. Beide wissen prinzipiell, wo sie hinwollen. Aber jeder erreicht das Ziel auf anderem Weg.“
Mir reicht eine grobe Richtung. Der Rest wird sich finden. Hoffentlich. Und als ich am Nachmittag in Keswick, einem beschaulichen Städtchen, noch durch die Gassen streifen will, nehme ich den Kompass meines Handys. Ich suche mir Osten als Richtung, weil ich auf der Karte gesehen habe, dass da viele Geschäfte und ein paar Pubs liegen. Da entlang also. Ungefähr wird’s schon stimmen.
Dann stecke ich das Handy weg und marschiere los – ohne mich zu verlaufen. Also nicht so sehr wie sonst. Und auf dem falschen Schlenker habe ich zumindest ein Geschäft mit Toffee- Zuckerln gefunden.